Eine überraschende Begegnung mit dem Dunning-Kruger-Effekt
Ich traute meinen Augen kaum!
Es war Frühjahr 2021. Ich scrollte durch LinkedIn auf der Suche nach interessanten Artikeln und blieb an einigen hängen, die sich mit dem Dunning-Kruger-Effekt befassten. Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt eine kognitive Verzerrung, bei der Menschen mit geringer Kompetenz in einem Bereich dazu neigen, ihre Fähigkeiten zu überschätzen. Menschen mit diesem Syndrom fehlt also die Metakompetenz, die eigene Kompetenzen objektiv zu beurteilen. So weit so gut, bekannt und auch interessant.
Nur: WER nun auf LinkedIn und in welchem Zusammenhang diesen Effekt als Erklärung nutzte, um Menschen mit anderen Überzeugungen schlecht zu machen und in welch agressiver und verurteilender Art, überraschte und enttäuschte mich. Menschen und Führungspersönlichkeiten, die ich für empathisch, offen, umsichtig, reif und alles andere als polarisierend erlebt hatte, schrieben und re-posteten gehässige Artikel über Andersdenkene und -handelnde.
Es geht mir nicht darum, wer oder wer nicht ein Pflaster am Oberarm trug, sondern darum, wie wir miteinander umgehen, wenn wir uns in unbekanntem Terrain befinden. Es war gleichzeitig bizarr und irgendwie auch amüsant und lehrreich für mich. Wann sonst hätte ich von gut beleibten, ergrauten Herren lernen können, die sich behaglich in ihren Luxuskarossen fortbewegen und ihre opulenten Steak-und-Pommes-Business-Lunches geniessen, dass sich die Inkompetenten – die vom Dunning-Kruger-Effekt geplagten – nicht die Bohne um die eigene und allgemeine Gesundheit scheren? OUPS … und schon befinde ich mich selbst im Bashing-Modus – so schnell passiert das mit dem Stereotypisieren. Also zurück zum Thema.
Die Ironie des Lake Wobegon-Effekts: Selbstüberschätzung und Kritik an anderen
Zurück zu den kognitiven Verzerrungen, die uns alle betreffen. Vielleicht betreffen sie jedoch diejenigen, die sie nur bei anderen sehen, sogar ein bisschen mehr? Das ist zumindest meine heutige kühne These. Übrigens kam ich auf diese Idee dank eines Buches aus dem Jahr 1956, das ich diese Woche gelesen hatte und dessen Figuren mich an meine LinkedIn-Erlebnisse von vor drei Jahren erinnerten.
In “Die Besteigung des Rum Doodle” von W. Bowman (Danke David Bussmann für den Tipp!) geht es um die Geschichte einer skurrilen Gruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, gemeinsam den höchsten Gipfel der Erde, den Rum Doodle, zu besteigen. Geführt wird sie durch den freundlichen, zurückhaltenden Binder, der nie ganz im Bilde ist und sich bei akut brenzligen Situationen zurückzieht, um über seine Führungsqualitäten zu meditieren. Weitere Teammitglieder sind unter anderen Jungle, der für die Routenplanung zuständig ist und sich ständig verirrt und Constant, der Fachmann für Sprachen, der mit seinen fehlerhaften Kommunikationskenntnissen immer wieder den Zorn der Träger hervorruft oder auch Pong, der Koch, dem es gelingt, die weltweit wohl ungeniessbarsten Mahlzeiten zu kreieren. Der Truppenarzt “schafft” es zudem, in den wenigen Wochen der Expedition wohl sämtliche bis heute bekannten Krankheiten zu überleben. Eine grossartige Parodie von der ersten bis zur letzten Seite. Und für mich ein überspitztes Beispiel von kognitiver Verzerrung – wenn auch einer wirklich sehr Selbstwert-dienlichen!
Doch welche ist das, wenn ich mich selber so überschätze? Ich suchte in den diversen Erklärungen der kognitiven Verzerrungen nach der passenden und bin auf den Lake Wobegon-Effekt gestossen. Dabei geht es darum. dass Menschen dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten, Intelligenz oder andere Merkmale positiver zu bewerten als die Durchschnittsperson, selbst wenn objektive Daten das nicht unterstützen. Beispiel dafür sind dass wir glauben, beliebter, klüger, schöner, und sowieso bessere Autofahrer zu sein als andere.
Die Bedeutung von Selbstreflexion und Offenheit im Umgang mit kognitiven Verzerrungen
Kann es sein, dass gerade Menschen, die andere als dumm, inkompetent oder unfähig darstellen, selber an massloser Selbstüberschätzung leiden? Ich denke, dass es tatsächlich sein könnte, dass Menschen, die anderen den Dunning-Kruger-Effekt zuschreiben, möglicherweise selbst vom Lake Wobegon-Effekt betroffen sind. Indem sie anderen mangelndes Bewusstsein für ihre eigenen Fähigkeiten vorwerfen, können sie unbewusst ihre eigenen Fähigkeiten überschätzen und sich als kompetenter einschätzen, als sie tatsächlich sind. Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass kognitive Verzerrungen wie diese subtil sein können und dass niemand vor solchen Effekten immun ist. Es erfordert Selbstreflexion und Offenheit, um solche kognitiven Verzerrungen zu erkennen. Interessant ist es zu beobachten, wer sich für Themen wie Selbstreflexion öffnet und dies als eine wesentliche Fähigkeit betrachtet, sowie wer solche Ansätze als esoterisch abtut :-).
Schon spannend was wir alles bei anderen und uns beobachten können, oder? Leben und Mensch-Sein ist spannend und niemals objektiv.
Dazu abschliessend der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann (1934-2024)
„Die grösste Illusion ist, dass Menschen über ihre eigenen Fähigkeiten objektiv urteilen können.“