… kennst du das? Ich auch nicht … ;-).
Zum heutigen Blogpost hat mich der Besuch des Philosophie-Festivals in Zürich vor wenigen Tagen inspiriert. Den Begriff des Gehetztsein als Lebensgefühl hat dabei der Soziologe Hartmut Rosa geprägt. Er spricht auch davon, dass wir in einem „Um zu“-Universum leben. Wie immer mit einem Augenzwinkern und viel Tiefgang.
Schon längers versuche ich ganz bewusst, mich nicht hetzen zu lassen. Und beobachte, wie vielerorts das Gehetztsein wie zum guten Ton gehört oder als unwiderbringliches Gesetz unserer Zeit gilt.
„Man hetzt sich immer nur so, wie man sich selber hetzen lässt.“ meinte Goethe schon vor ca. 200 Jahren.
Es scheint also kein neues Phänomen zu sein. Und schon Goethe hatte beobachtet, dass die Geschwindigkeit unseres Lebens oft von unseren eigenen Entscheidungen und Prioritäten abhängt und nicht nur davon, dass wir im Höher-Schneller-Weiter-Mehr-Paradigma keine andere Wahl hätten. Und ich vermute, Gehetztsein hat auch Vorteile; oder was glaubst du, wovor es dich bewahrt, wenn du nie Zeit hast, um Nachzudenken und -spüren?
Was ist das Lebensgefühl der Gehetztheit?
Das Sich-Gehetzt-Fühlen weist diverse Merkmale auf:
Zunächst einmal manifestiert es sich darin, dass wir dazu neigen, uns auf das Dringliche anstatt auf das Wichtige zu konzentrieren. Anstatt unsere wichtigen Ideen im Leben zu verfolgen, reagieren wir auf unmittelbare Erwartungen und setzen kurzfristige Prioritäten über langfristige Visionen.Und dies, obwohl wir doch alle in diversen Ausbildungen schon x-Mal vom Eisenhower-Prinzip gehört hatten …
Im Zustand der Gehetztheit fühle ich mich unter Zeitdruck und bin damit beschäftigt, zu reagieren statt zu agieren. Ich hetze von Task zu Task, ohne mir die Zeit zu nehmen, innezuhalten und zu reflektieren. Und neuen Ideen Raum zu lassen. Diese fortwährende Reaktion auf äussere Stimuli kann zu einem Gefühl der Überlastung und auch Erschöpfung führen und bringt bestimmt keine tollen neuen Erkenntnisse.
Ein weiteres Merkmal des Lebensgefühls der Gehetztheit ist die mangelnde Präsenz und Aufmerksamkeit in zwischenmenschlichen Interaktionen. Wie oft erlebe ich mich selber gedanklich bereits in der Zukunft, oder abgelenkt. Die Folgen? Ich höre nicht zu und gehe so nicht auf das Gegenüber ein.
Bei uns zu Hause haben mein Mann und ich, inspiriert durch Dr. med. Andrea Fuchshofer, ein Wort aus unserem Sprachgebrauch verbannt. Denn sehr bezeichnend im Zustand der Gehetztheit ist das häufige Verwenden von Ausdrücken wie „Schnell noch“ und “nur no gschnäll”. Dies unterstreicht die Hektik und macht nicht nur was mit unserem eigenen System, sondern überträgt sich auf unser Gegenüber oder im Fall der Ärztin auf die Patienten.
Ursachen der Gehetztheit
Hmm, da gibt es einige! Es gibt Ursachen systemischer und gesellschaftlicher Art und solche, die in uns selber liegen. Und alle haben damit zu tun, welche Geschichten wir uns über uns und die Welt erzählen.
Wie beispielsweise dem Versprechen und der Verheissung des modernen Lebensstil, der glaubt, dass es dir nur mit MEHR besser geht. Der Soziologe Hartmut Rosa nennt dies auch Weltreichenvergrösserung. Was soviel bedeutet wie: “Handle jederzeit so, dass deine Weltreichweite grösser wir durch die Vermehrung von materiellen Dingen, von Kontakten und Optionen.“
Ich für mich bin glücklicher, seit ich das „weniger und langsamer ist mehr“ in meinem Leben auf diversen Ebenen umgesetzt habe. Genauso ergeht es Dr. Ralph Nacke, der letzten Samstag an der IP-Konferenz über die Gemeinwohlökonomie referiert hatte und zum Abschluss meinte: es sei ihm nie so gut gegangen im Leben wie in den vergangenen 13 Jahren, seit er begann, sich mit Suffizienz zu beschäftigen und dies in sein Leben zu integrieren.
Und die andere Geschichte die wir uns leben, ist diejenige von dem Getrennt-Sein. Getrennt von mir selbst, meinen Bedürfnissen und Träumen sowie vom Lebensrhythmus, von der Natur.
Auswirkungen der Gehetztheit
Gehetztheit kann eine eine Vielzahl von negativen Auswirkungen auf das Wohlbefinden, die Gesundheit, die Beziehungen und die Lebensqualität haben. Dazu nur einige mögliche Auswirkungen, die in diversen Studien untersucht wurden:
–Gesundheitlich: Stressbedingte Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstörungen und psychische Probleme wie Depressionen und Angstzustände.
– Wohlbefinden: Gefühle von Überlastung, Erschöpfung und Unzufriedenheit
– Beziehungen: wenig Zeit und Energie für Kommunikation und Nähe
– Lebensqualität: weniger Zeit für das, was Freude bereitet
Jede Medaille hat zwei Seiten und Gehetztheit hat wohl auch Vorteile wie Produktionssteigerung oder Adrenalin und Motivation oder eben, dass es mich davor bewahrt, mich den grossen Fragen des Lebens stellen zu müssen wie bspw:
– ist es DAS was ich will?
– Ist es das was ICH will?
Doch sicher ist, dass die langfristigen Auswirkungen für uns als Individuum und als Gesellschaft negativ sind.
Wege zur Überwindung der Gehetztheit
Nun, was kann ich denn tun? Je nach Typ helfen instant Zeitmanagement-Tools, diverse Übungen zur Resilienz-Steigerung (oder Wirkshops dazu bei mir ;-)) oder die Selbst-Coaching-Übung Lebensrad (Vorlagen gibt es einige im Netz).
Doch langfristig benötigen wir eine andere Art des In-Beziehung-Tretens der Menschen und Kollektive zu sich und zur Welt. Und dafür muss ich mir zuerst mal selber bewusst werden und meinem inneren Kompass auf die Spur gehen.
Ich habe zudem das Gestalten in gemeinsamen Räumen, das Kollaborieren, als sehr hilfreich erfahren. In diversen Gruppen darf ich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und Solidarität erfahren, was uns allen hilft, gemeinsam komplexe Herausforderungen zu bewältigen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln – und mich etwas zu entspannen.
Mein Geheimtipp ist jedoch das Nutzen der Weisheit der Natur. Was soviel bedeutet, wie sich auf das Leben selbst auszurichten, nicht mehr und nicht weniger. Wie das geht? Wenn wir uns folgender drei Gesetze der Natur bewusst sind, die Giles Hutchins in Leading by Nature beschreibt.
1 Das Leben verändert sich ständig: in allem gibt es sowohl Stille als auch Bewegung. Bewegung ist von Stille durchdrungen. Aus Stille entsteht Bewegung. Aus dieser Bewegung, die aus der Stille entsteht, entsteht die Evolution des Lebens. Dieser Tanz des Lebens folgt dem pulsierenden Rhythmus des Entstehens und Ausdrückens und Tuns und des Seins.
2 Das Leben ist voller Spannungen: Spannung ist die Basis von Kreativität. Zwischen Yang und Yin besteht eine Spannung, die den kreativen Fortschritt der Natur antreibt. Manchmal gibt es etwas mehr Yang, manchmal mehr Yin. Durch die Spannung von komplementärer Unterschieden wird etwas Neues gebildet.k
3 Das Leben ist relational und vernetzt: Alles Leben ist von einem universellen Bewusstseinsfeld durchdrungen, das alles informiert und miteinander verbindet. Wissenschaftler nennen es Quantenfeld. Jeder manifeste Aspekt der Natur, zusammen mit uns selbst und unseren Organisationssystemen, ist individuell– er behält seine Grenzen und sein eigenes Wesen – und doch sind alle in dieses Feld eingetaucht. Nichts ist getrennt; alles hängt zusammen. Das Führungsteam ist in das Organisationssystem eingebettet, das wiederum in sein umfassenderes Stakeholder-Ökosystem eingebettet ist, das wiederum in gesellschaftliche und ökologische Systeme eingebettet ist.
Das intellektuelle Begreifen davon ein Aspekt, die Weisheit der Natur offenbart sich schliesslich durch verkörperte Erfahrung. Also beispielsweise das wieder bewusste Wahrnehmen von sich in der Natur. Das Bewegen. Oder eben beispielsweise, dadurch, dass ich mir neben dem Tun auch viel Sein-Zeit gönne und entschleunige und bewusst lebe (und das darf zwischendurch auch ganz tifig sein).
Lao Tzu meinte dazu:
„Wer so fliesst, wie das Leben fliesst, weiss, dass er keine andere Kraft braucht.“
Fazit
Wir können uns als Opfer der beschleunigten Lebensumstände sehen. Müssen dies aber nicht.
Die Selbstwirksamkeit steigere ich durch Selbst-und Lebens-Bewusstheit. Durch die Fähigkeit, sich bewusst und achtsam des eigenen Lebens und der eigenen Existenz zu sein. Mir der verschiedenen Aspekte des Lebens bewusst zu sein, wie Gedanken, Emotionen, Körperempfindungen, Handlungen, Beziehungen und Umgebung sowie die Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment präsent zu sein und das Leben in seiner Fülle und Vielfalt wahrzunehmen. Weil es ist doch einfach #awonderfulworld … oder?
Abschliessend empfehle ich den Kurzfilm “The Present” von Jacob Frey. Obwohl der Film nicht direkt das Thema der Gehetztheit behandelt, illustriert er auf eindrückliche Weise, wie wir oft im Alltag so sehr von unseren eigenen Problemen eingenommen sind, dass wir die kleinen Freuden des Lebens übersehen können.