Vor etwa zwanzig Jahren bin ich das erste Mal auf das Enneagramm aufmerksam gemacht worden. Ein Persönlichkeitsmodell, das mich sofort anzog und zugleich sehr skeptisch machte. Zu jener Zeit wurde das Enneagramm praktisch ausschliesslich in religiösen Kreisen gelehrt und insbesondere in der Businesswelt als esoterisch abgestempelt. Ich konnte mich mit diesem Ruf nicht anfreunden, denn ich war damals ausschliesslich an fundierter und wissenschaftlich basierter Psychologie interessiert. Doch irgendetwas daran faszinierte mich und liess mich nicht los. Vielleicht war es die Tiefe und Komplexität, die das Enneagramm versprach, oder die Tatsache, dass es keine schnellen Antworten lieferte und intensive Auseinandersetzung erforderte?
Die ersten Schritte: Skepsis überwinden
Mein erster vertiefter Kontakt mit dem Enneagramm fand in einem mehrtägigen Workshop statt. Was mich letztlich überzeugte teilzunehmen, war der Hintergrund der beiden Kursleiter: beide sehr erfahrene Berufsmänner, davon einer – Norbert Häg – hauptberuflicher Ingenieur. Dies gab mir das Vertrauen, dass das Enneagramm nicht nur esoterische Aspekte, sondern auch fundierte Elemente beinhaltete. Der Workshop erwies sich als grundlegende Einführung. Mir war schnell klar, dass ein Kurs kaum ausreichte, um die Tiefen des Enneagramms zu ergründen. Es bedarf vieler Jahre intensiver Beschäftigung, um die Nuancen und Möglichkeiten dieses Modells vollständig zu verstehen und für persönliches Wachstum zu nutzen. Und so begab ich mich auf diese Reise, die andauert, die zwischenzeitlich durch diverse Kurse sowie im Jahr 2017 nach mit dem Diplom zur Enneagrammtrainerin EN angereicht worden ist .*
Die Krise: Ein Wendepunkt und eine Entwicklungsreise
Mein persönlicher bisheriger Entwicklungsprozess verlief wohl wenig erstauntlich weder linear noch allmählich. Und hier erzähle ich nur die Kurzform – Teilnehmende meiner Wirkshops erfahren jeweils die etwas ausführlichere Variante:
Ein einschneidender Wendepunkt in meiner Reise mit dem Enneagramm war eine persönliche Krise. Es fühlte sich damals für mich an, als stünde ich am Rand eines Abgrunds, ohne klaren Weg nach vorn. Inmitten dieser tiefen Krise stellte ich nicht nur meine äusseren Umstände, sondern auch mich selbst fundamental in Frage. Das Enneagramm erwies sich in dieser Phase als Rettungsanker. So pathetisch es klingen mag, das Wissen um die Dynamiken und Mechanismen der diversen Typen hat mir in dieser schwierigen Zeit tatsächlich das Leben gerettet.
Vor dieser Krise war ich stark auf äusseren Erfolg fokussiert. Ich befand mich auf jener Entwicklungsstufe, die durch eine ergebnisorientierte und stark wettbewerbsfähige Haltung geprägt war. Mein Selbstwert war eng an meine Leistungen und Erfolge gebunden, was immer auch wieder zu einem Verlust meiner Authentizität führte und zu Unehrlichkeit mir selbst gegenüber. In dieser schwierigen Lebensphase, in der ich alles hinterfragte, begann ein tiefgreifender Wandel. Ich lernte, mich selbst mehr zu akzeptieren und meinen Wert nicht nur über äussere Erfolge zu definieren. Es war ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess des Loslassens.
Ich begann, eine Balance zwischen beruflichem Erfolg und persönlichem Wohlbefinden zu finden. Ich erkannte, dass mein Erfolg nicht nur für mich, sondern auch für das Wohl anderer von Bedeutung sein kann. Meine Motivation verlagerte sich vom reinen Streben nach persönlichem Erfolg hin zu einem authentischen Dienst an der Gemeinschaft. Ich nutzte meinen Erfolg zunehmend, um andere zu inspirieren und zu unterstützen, und fand dadurch zu einem Ort der Echtheit und Selbstakzeptanz.
Orientierungslauf und Landkarten: Metaphern für innere Reisen
Als ehemalige Freizeit-Orientierungsläuferin mit ausgeprägtem Orientierungssinn habe ich eine besondere Beziehung zu Landkarten entwickelt, die inzwischen auch in und mit der inneren Arbeit eine wichtige Rolle spielen.
Im Orientierungslauf geht es darum, mit Hilfe einer Karte und eines Kompasses einen Weg durch unbekanntes Gelände zu finden. Manchmal stösst man dabei auf unvorhergesehene Hindernisse wie dichte Brombeerbüsche oder auf weichen Boden, der das Laufen um einiges erleichert. Ähnlich verhält es sich mit der inneren Arbeit: Die „Karte“ ist NIE das vollständige Terrain. Sie gibt uns eine Orientierung, aber die tatsächlichen Erfahrungen – die emotionalen und psychischen Hindernisse – müssen selbst erkannt und durchlebt werden.
Das Enneagramm dient mir in diesem Sinne als eine Landkarte meiner inneren Welt – sowie jener meines Gegenübers. Es zeigt die großen Linien und Strukturen, die verschiedenen Persönlichkeitsmuster und die möglichen Entwicklungswege. Doch wie im Orientierungslauf ist die Karte nur ein Hilfsmittel. Die eigentliche Reise – das Navigieren durch die eigenen Gefühle, Ängste und Blockaden – bleibt eine persönliche und individuelle Herausforderung.
Die Rolle des Enneagramms und die Forschung von Robert Kegan und Lisa Lahey
Ein wesentlicher Aspekt meiner Reise war die Erkenntnis, dass echte Veränderung nicht nur durch äussere Massnahmen (wie Trainings und Techniken), sondern auch durch die Auseinandersetzung mit inneren Anteilen erreicht wird. Hierbei stiess ich u.a. auf die Forschung von Robert Kegan und Lisa Lahey, die das Konzept des „doppelten Investierens“ beschreiben. Oft investieren wir viel Zeit und Energie in Veränderungsprozesse, ohne die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Der Grund dafür sind unbewusste, interne Widerstände, die nicht ausreichend berücksichtigt werden. Verborgene Blockaden, wie unbewusste Ängste und Glaubenssätze, können unseren Fortschritt erheblich behindern.
Das Enneagramm bietet hierbei einen wertvollen Schlüssel. Es hilft, tiefgehende Einblicke in die unbewussten Motivationen und Blockaden eines jeden Persönlichkeitstyps zu gewinnen. Indem wir diese inneren Hindernisse erkennen und verstehen, können wir diese annehmen, integrieren und dadurch bewusste nachhaltige Veränderungen erreichen.
Vom Ego zum Selbst: Die Maske ablegen
Ein zentrales Thema meiner Reise war das Verständnis der eigenen Ego-Strukturen und deren Anerkennung. Wie Kegan und Lahey und viele andere argumentieren, liegt ein grosser Teil unseres persönlichen Wachstums in der Arbeit an diesen unbewussten Mustern. Das Enneagramm half mir, das „Ego“ nicht als Feind, sondern als eine psychologische Struktur zu sehen, die aus Notwendigkeit entstand. Diese Erkenntnis ermöglichte mir, mit Mitgefühl und Verständnis auf meine eigenen Muster zu blicken und sie Schritt für Schritt zu transformieren. Und auch das ist ein Spiel, welches mich wohl mein Leben lang begleiten wird – aber mit glücklicherweise immer weniger dramatischen Auswirkungen … ;-).
Wie beim Orientierungslauf ist auch hier die Landkarte – in diesem Fall das Enneagramm – nicht das Ziel, sondern ein Werkzeug, das uns dabei hilft, uns besser zu orientieren und zu verstehen. Es zeigt die möglichen Wege, aber der tatsächliche Fortschritt erfordert Mut, Ehrlichkeit und die Bereitschaft, sich den Herausforderungen zu stellen.
Fazit und Ausblick
Meine Reise mit dem Enneagramm ist eine Geschichte des langsamen, aber stetigen Wachstums, die durch eine tiefgehende Krise einen entscheidenden Schub erhielt. Sie ist geprägt von der Auseinandersetzung mit Skepsis, der Entdeckung tieferer Wahrheiten und dem beständigen Streben nach Authentizität und Selbstakzeptanz.
Diese Reise ist noch lange nicht beendet, aber sie hat mir bereits gezeigt, dass wahre Veränderung möglich ist, wenn man bereit ist, sich den inneren Widerständen zu stellen und die Masken abzulegen, die uns vom vollen Ausdruck unseres Selbst abhalten.
In den kommenden Blogartikeln werde ich nicht nur die einzelnen Typen des Enneagramms beleuchten, sondern auch aufzeigen, wie ich das Enneagramm mit anderen spannenden Methoden, Rahmen und Landkarten aus dem Business-Bereich verbinde. Dies umfasst agile Frameworks, die Inner Development Goals, Theorie U und andere Konzepte. Obwohl ich heute häufig auf die umfassenderen Frameworks wie integrale und vertikale Entwicklungstheorien zurückgreife, hat das Enneagramm eine besondere Stellung in meiner Arbeit. Es war meine erste „Landkarte“, die mir den Weg in die tiefere Auseinandersetzung mit meiner eigenen Persönlichkeit und Entwicklung gezeigt hat. Es ist wie eine Hintergrundmusik, die stets mitschwingt und sich mit meiner persönlichen und beruflichen Entwicklung weiterentwickelt.
Ich sehe das Enneagramm als Ausgangspunkt, der mir geholfen hat, komplexere und umfassendere Systeme zu verstehen. Es bleibt ein integraler Bestandteil meiner Arbeit, weil es mir nicht nur den Einstieg ermöglicht hat, sondern auch weiterhin wertvolle Einsichten liefert, die ich in meiner täglichen Praxis anwende. Ich freue mich darauf, diese spannende Reise mit dir zu teilen und gemeinsam neue Erkenntnisse zu gewinnen.
*entgegen einiger Schulen in der CH, welche seit ca. 2 Jahren sogenannte „erste Enneagramm-Trainer-Kurse“ anbieten, gibt es diese schon länger…