Die leisen Risse unter der Oberfläche
In meinen Coachings mit Führungskräften der letzten Wochen beobachte ich etwas, das mich gerade sehr bewegt: Viele Menschen, die für Neues und Tiefe stehen, werden oft überhört, übersehen oder sogar ausgebremst.
Im Businessumfeld zählt wieder vor allem eins: Wer gewinnt? Wer optimiert am besten? Effizienz statt Effektivität. Nachhaltigkeit als Marketingeffekt – hhhmm ja, aber in echt? Oft nebensächlich. Hauptsache, die Zahlen stimmen kurzfristig. Die lautesten Stimmen mit den besten Buzzwords bekommen den meisten Raum. Es fühlt sich an, als wären wir 15 Jahre zurückversetzt worden.
Doch unter dieser Oberfläche wächst eine stille Unzufriedenheit. Viele spüren, dass dieses System nicht mehr trägt. Heute vielleicht noch; aber wie lange? Und diejenigen, die wirklich etwas verändern wollen und den Mut dafür aufbringen, finden oft keinen Platz, verlieren ihn oder verlassen ihn freiwillig.
In den letzten zwei Wochen habe ich mehr von Kündigungen und Trennungen im Arbeitsumfeld gehört als glaub in den letzten zwölf Monaten. Dieses Muster ist deutlich: Alte Denk- und Lösungsweisen erstarken, doch sie können nicht mehr lange halten.
Wenn Sicherheiten wanken
Zu wissen, dass etwas zerbricht, reicht nicht aus. Es braucht einen tieferen Prozess. Einen inneren Wandel, der sich nicht erzwingen lässt, sondern uns zum Unlearning – zum Ent-Lernen ruft. Nicht wirklich als Akt des Willens und Wollens, sondern als ein leises Erschüttern unserer inneren Architektur.
Ein Text auf LinkedIn, geschrieben vom Philosophen Bayo Akomolafe, hat mich diese Woche besonders berührt. Er spricht über Zeiten des Umbruchs, in denen unsere gewohnten Landkarten nicht mehr greifen. Über Momente, in denen unsere vertrauten inneren und äusseren Strukturen ins Wanken geraten. In diesem Zusammenhang beschreibt er Unlearning als einen „Tremor in der Architektur“. Ein sanftes, oft kaum spürbares Erzittern unserer Grundmauern. Kein lautes Loslassen, sondern ein Ent-festigt-Werden. Es lässt uns ratlos zurück, weil der Boden unter unseren Füssen zu wanken beginnt.
Und doch: Gerade in diesem Schütteln und Zerbrechen liegt Kraft. Es öffnet Räume für Neues. Für ein Wachstum, das nicht nur horizontal Wissen anhäuft, sondern vertikal reift ; ein „Weit-Werden“ des Bewusstseins, das mehr hält als das bisher Sichtbare, mehr spürt als das Gewohnte und ein neues Denken, Fühlen und Handlen ermöglicht.
Vertikales Wachstum als Idee und Landkarte
Darum geht es auch in meinen Räumen rund um „vertikale Entwicklung“. Kein weiterer Skill, nicht nur weitere fancy Tools, nicht nur ein „besser im Bisherigen werden“ sondern ein innerer Wandel. Eine Erweiterung der Wahrnehmung, die uns u.a. befähigt, Ambivalenz zu umarmen, Komplexität zu halten und mit Unsicherheit zu tanzen.. naja, oder zumindest sie zu halten ;-). Und da können dann durchaus wieder ganz neue Tools und Fähigkeiten wichtig werden, die man in diesen Räumen lernen und erproben kann.
Gerade in einer Zeit, in der schnelle Lösungen, Buzzwords und perfektes Marketing dominieren, ist vertikale Entwicklung ein kraftvolles Gegengewicht. Sie bietet Tiefe, Halt und eine innere Landkarte für das Navigieren im Umbruch.
Und vielleicht schreibe ich das alles auch deshalb heute nieder und mit solcher (innerlich verspürter) Dringlichkeit, weil ich selbst glaub gerade wieder mittendrin stehe. Auch bei mir verschiebt sich im Inneren einiges und YEP diese Übergänge sind nie bequem, wenn man sie nicht weg-denkt oder einfach ignoriert. (wobei die dann in irgendeiner anderen Form sich bemerkbar machen werden …).
Wie froh wäre ich damals gewesen; vor über zehn Jahren, als gefühlt mein ganzes „normales“ Leben erschüttert und neu formiert wurde. Wenn ich damals schon ein tieferes Verständnis oder zumindest eine erste Landkarte für solche Phasen gehabt hätte. Heute weiss ich: Unlearning ist nicht das Ende, sondern der Anfang eines anderen Lernens und schliesslich Integrierens. Einer Bildung, die Raum schafft für das Zittern, das Fallen, das Aushalten von Nichtwissen – und das Aufstehen.
Der Raum fürs Nicht-Aufgeben
Was ich dabei auch ganz tief spüre – nicht nur als Beraterin, sondern auch persönlich als Bianca – ist die Frage: Wo werde ich gehört? Wo bekomme ich Raum, mich zu entfalten und wo eben auch nicht? Das ist manchmal schon ein harter Tanz, auch für mich selbst. Wenn auch das Umfeld sich dann ändert.
Deshalb ist mir der Austausch mit Menschen, die ähnlich fühlen und erleben, so kostbar geworden. Menschen, die auf der Suche sind. Die manchmal den nächsten Schritt nicht klar sehen oder spüren, dass gerade der „Nicht-Schritt“, das bewusste Innehalten, das Wichtigste ist. Gerade heute hatte ich so einen wertvollen Austausch, der mir wieder gezeigt hat: In Momenten des Innehaltens, des Hinschauens auf die eigene innere Spannung, liegt enorme Kraft.
Vielleicht DIE Einladung der jetzigen Zeit
Unlearning ist nicht das Ende, sondern der Anfang eines anderen Lernens. Einer Bildung die Raum schafft für das Zittern, das Fallen, das Aushalten des Nichtwissens, das Intuieren und das Aufstehen. Für gemeinsame Reflektion, Pausen, Frust, Trauer und Feiern. Vielleicht ist genau das die Einladung, die diese Zeit an uns richtet:
Mut zum Loslassen. Mut zum Unmade-Werden. Mut zum Weit-Werden.
Ich freue mich auf den Austausch mit all jenen, die das Bröckeln auch spüren und sich austauschen und gemeinsam mutig weitergehen wollen.
Auf Pause drücken und trotzdem weiter Optimistin sein mit einer Vorfreude auf das was kommt fühlt sich gerade gesund an. Vielen Dank fürs Teilen liebe Bianca 🙂