Das Enneagramm, im Prinzip “einfach” eine geometrische Figur, die auf der Zahl Neun basiert, hat eine lange und bewegte Geschichte die spannender ist als jede Krimiserie und komplexer als der Versuch, ein IKEA-Regal ohne Anleitung aufzubauen :-).
Ursprünglich verwurzelt in magisch-mystischem Denken, entwickelte sich das Modell über Jahrhunderte hinweg weiter und nahm verschiedene Formen an, von religiösen und esoterischen Interpretationen bis hin zu psychologischen und professionellen Anwendungen in Businesskontexten.
Antike Wurzeln und mystische Ursprünge
Die Ursprünge des Enneagramms sind vielfältig, umstritten, nebulös und darum finde ich auch sehr interessant! Einige Quellen deuten darauf hin, dass es aus der Antike stammt, während andere glauben, es habe seinen Ursprung im Sufismus oder im frühen Christentum. Bereits im 4. Jahrhundert nutzte der christliche Mystiker Evagrius Ponticus ein Modell, das dem heutigen Enneagramm ähnelt. Ramon Llull, ein katalanischer Mystiker des 13. Jahrhunderts, entwickelte Symbole, die dem Enneagramm nahekommen und mit denen er Tugenden und Laster beschrieb.
Gurdjieff und die moderne Entfaltung
Im 20. Jahrhundert trat Georges I. Gurdjieff auf den Plan, ein Schriftsteller, Philosoph und Mystiker der das Enneagramm in seine Lehre des Vierten Weges integrierte. Gurdjieff, der ungefähr 1866 in Armenien geboren wurde und 1949 in Paris starb, verwendete das Enneagramm als Teil seines Systems zur harmonischen Integration von Körper, Geist und Seele. Seine Lehren, die von seinem Schüler P.D. Ouspensky einem breiteren Publikum bekannt gemacht wurden, sind heute noch ein bedeutender Teil des Enneagramms.
Naranjo, Ichazo und Palmer: Die Weiterentwicklung
In den 1970er Jahren begann eine spannende Phase für das Enneagramm, oft als Arica-Zeit bezeichnet. Claudio Naranjo, ein chilenischer Psychiater, trug entscheidend zur Integration des Enneagramms in die moderne Psychologie bei. Naranjo führte das Modell in die westliche Psychotherapie ein und definierte die neun Enneagramm-Typen, wobei er tiefergehende psychologische Einblicke entwickelte. Parallel dazu entwickelte Oscar Ichazo, ein bolivianischer Lehrer, ein umfassendes System, das das Enneagramm mit Psychologie und Spiritualität verband.
Helen Palmer, eine amerikanische Autorin, spielte eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung des Enneagramms in der westlichen Welt ab den 90er Jahren. Ihr Buch „The Enneagram: Understanding Yourself and the Others in Your Life“ machte das Modell einem breiten Publikum zugänglich. Und seither sind nun unzählige Bücher erschienen von etlichen Autoren. Zuvor war die Verbreitung nur einem „engen Kreis von Vertrauten“ vorbehalten gewesen. Diese Geheimhaltung hat Helen Palmer mit einer Urheberrechtsklage beendet. Denn schliesslich ist bis heute nicht bekannt – wer es denn nun wirklich „erfunden“ hat….
Meine eigene Reise durch das Enneagramm: Ein Abenteuer voller Entdeckungen
Meine persönliche Reise mit dem Enneagramm begann durch die mündliche Tradition bei Norbert Häg und Marcel Sonderegger. Bei ihnen habe ich nicht nur die Grundlagen des Enneagramms erlernt, sondern auch mein Diplom zur Enneagrammlehrerin erhalten. Ein weiterer bedeutender Lehrer für mich war Tom Condon, der nach wie vor grossartige Seminare zum Professionellen Enneagramm am Kurszentrum Aarau anbietet.
Meine Lehrer und ich stehen übrigens in direkter Linie zu den grossen Pionieren Naranjo, Ichazo und Palmer, da sie drei teilweise direkt von diesen beeindruckenden Persönlichkeiten gelernt haben.
Heute lerne ich täglich dazu – sei es durch die praktische Anwendung oder in unserer Intervisionsgruppe, die sich mehrmals jährlich trifft. Seit über zehn Jahren bin ich dort dabei und bin nach wie vor die Jüngste mit einem Altersunterschied von über einer Generation zu den zweitjüngsten Mitgliedern. Dies verdeutlicht, dass das Enneagramm zwar bekannter wird, aber immer noch weit davon entfernt ist, alltäglich verbreitet zu sein. Dies liegt unter anderem daran, dass es komplexer ist als viele andere Typologien und kontinuierlich neue, tiefere Schichten und Nuancen offenbart. Das „nie fertig sein“ ist Teil des Abenteuers – und frau muss bereit sein, damit umgehen zu können … ;-).
Das Enneagramm im Kontext des Human Potential Movement
Hier noch ein interessanter spannender Exkurs zum Human Potential Movement (HPM). Zumindest für Menschen wie mich, die gerne Verwebungen und Verbindungen zwischen diversen Theorien suchen und oft auch finden. Das HPM war von den 1940er bis 1970er Jahre ein bedeutendes Netzwerk von Ideen und Praktiken, das sich auf die Erschliessung des menschlichen Potentials konzentrierte. In dieser lebendigen Atmosphäre fand das Enneagramm seinen Platz und erlangte breite Bekanntheit. Wichtige Persönlichkeiten des HPM wie Abraham Maslow, Carl Rogers, Fritz Perls, Stanislav Grof und Alan Watts trugen dazu bei, das Ideen aus dem Enneagramm in verschiedene psychologische und spirituelle Kontexte zu integrieren. Weitere bekannte Persönlichkeiten aus dieser Bewegung waren Viktor Frankl, Moshé Feldenkrais oder auch Ken Wilber. Und auf einige dieser Pioniere und ihre Werke beziehe ich mich oft in meinen Wirkshops – auch ganz ohne Enneagramm ;-).
Das Enneagramm: Ein globales Werkzeug, das sich in Texten oft schwer tut
Heute ist das Enneagramm ein bedeutendes – wenn ich in der Schweiz noch nicht allzu verbreitetes – Werkzeug für persönliche und berufliche Entwicklung und wird weltweit von Psychologen, Coaches und spirituellen Lehrern genutzt.
Das Enneagramm kann über den Grundaufbau schriftlich nur schwer vollständig vermittelt werden. Die persönliche Erfahrung und direkte Auseinandersetzung mit den neun Typen bieten oft viel tiefere Einsichten als Texte allein. Gerade auch Dinge, die man aufgrund der Lektüre meint verstanden zu haben, sind ‚live‘ manchmal ziemlich anders. Texte können zudem nur schwer alle neun ‚Lesemuster‘ der Lesenden berücksichtigen– damit sind Missverständnisse, die oft bedeutsam ist, geradezu programmiert. Es gibt deshalb Enneagramm-Schulen, die auf schriftliches Material entweder ganz verzichten oder solches nur im Kontext ihrer Schule abgeben. Und auch ich vermittle das Enneagramm – wenn – dann am liebsten mündlich in Onlinekursen oder Offlineseminaren. Und abschliessend noch was für alle Kritiker von Typologien …
Warum das Enneagramm nicht in den Wissenschafts-Olymp aufsteigt – und warum es trotzdem goldwert ist
Immer wieder begegnet mir die Aussage, dass das Enneagramm nicht wissenschaftlich sei. Diese Ansicht mag stimmen, wenn man den heutigen wissenschaftlichen Standards folgt, die oft auf quantifizierbaren Beweisen basieren. Das Enneagramm hingegen ist ein dynamisches Prozessmodell, das schwer in festen wissenschaftlichen Messgrössen zu fassen ist.
Was mich jedoch überzeugt, auch nach jahrelanger intensiver Arbeit mit dem Enneagramm, ist die bemerkenswerte Präzision dieses Modells. Die Einsichten, die es bietet, sind oft überlegen im Vergleich zu den Ergebnissen traditioneller wissenschaftlicher Tests. Das Enneagramm mag nicht in einem Labor unter dem Mikroskop untersucht werden können, doch es bietet eine tiefgreifende Landkarte der menschlichen Persönlichkeit, die in der Praxis oft äusserst nützlich ist.
Wie bei allen Typologien ist es zudem wichtig zu verstehen, dass das Enneagramm nur eine von vielen Landkarten ist, die uns helfen können, uns selbst besser zu verstehen. Diese Landkarten sind nicht die Realität selbst, sondern Werkzeuge, um uns auf unserem Weg zur Selbstverwirklichung zu begleiten. Das Enneagramm hilft uns, uns selbst tiefer zu erkennen und in einer Gesellschaft, die oft blind durch kollektive Muster und unbewusste Mechanismen geleitet wird, authentisch und mutig zu bleiben.
In diesem Sinne ist das Enneagramm ein kraftvolles Werkzeug für persönliche Entwicklung und Selbstbewusstsein. Es bietet wertvolle Einsichten und Orientierung, auch wenn es sich nicht in die strengen Kategorien traditioneller Wissenschaft einordnen lässt. Es lädt uns ein, uns auf die Reise zu machen, uns selbst besser zu verstehen und in unserer Welt bewusster zu agieren. Also zumindest mich hat dieser Reisevirus vor über 15 Jahren gepackt und nicht mehr losgelassen … 😉